Privileg vs. Prekarisierung
Perspektiven aus 30 begleitenden Interviews
Teil des Ausstellungsprojekts war es, die portr?tierten Wissenschaftlerinnen in halbstündigen Interviews zu ihren Arbeitsbedingungen und Sichtweisen auf den Wissenschaftsbetrieb zu befragen. Der folgende Beitrag gibt hierzu einen ?berblick.
Allen Befragten gemeinsam ist die Leidenschaft für ihr Forschungsthema und die Arbeit an einer Hochschule. Flexible Arbeitszeiten und weitgehend frei zu gestaltende Anwesenheitszeiten werden als Vorzüge einer Universit?tst?tigkeit gesch?tzt. Ebenso tragen Wertsch?tzung und Anerkennung für die eigene Leistung – oft seitens der Studierenden oder auf Tagungen und Konferenzen – ganz wesentlich zur Arbeitszufriedenheit bei. Ideen- und Impulsgeberin für andere zu sein empfinden viele der Frauen als zus?tzlich motivierend. Aus dieser sehr hohen intrinsischen Motivation der Wissenschaftlerinnen folgt nicht selten die Bereitschaft, langfristig unsichere Besch?ftigungsverh?ltnisse und Abh?ngigkeiten in Kauf zu nehmen.
Aus den konkreten Arbeitsbedingungen vor Ort ergeben sich für die Wissenschaftlerinnen sehr unterschiedliche M?glichkeiten des fachlichen und kollegialen Austauschs, des professionellen Netzwerkens und der inhaltlichen Mitgestaltung ihres Arbeitsbereichs. W?hrend manche durch regelm??ige formelle und informelle Gespr?che mit Vorgesetzten und Kolleg_innen, Teilnahme an Workshops oder Konferenzen, Unterstützung für ihre Entwicklung und Laufbahn gewinnen, fühlen sich andere allein gelassen. In den Gespr?chen wurde deutlich, dass die wissenschaftstypischen Arbeitsbelastungen sehr individuell erlebt und bearbeitet werden.
Trotz der ausgepr?gten Tendenz, Problemlagen innerhalb des Wissenschaftssystems zu individualisieren, nehmen viele der Wissenschaftlerinnen strukturelle Barrieren als solche wahr. Informelle Exklusions??mechanismen, die es Frauen in besonderem Ma?e erschweren, eine Wissenschaftslaufbahn zu verfolgen oder die Herausforderung, Elternschaft oder Pflege mit beruflichen Anforderungen zu vereinbaren, erleben oder beobachten sie in ihren Arbeitskontexten. Damit beschreiben die Wissenschaftlerinnen Ph?nomene, die aus der Geschlechtersoziologie als ?Gatekeeping“, ?sticky floor“ oder die vielzitierte ?gl?serne Decke“ bekannt sind.
Ein ganz zentrales Thema sind darüber hinaus die schlechte Planbarkeit wissenschaftlicher Laufbahnen und die geringen Aussichten auf eine Professur bzw. unbefristete Alternativen. Diese Unsicherheit wird als überwiegend belastend erlebt und sowohl als Kritik an Hochschulpolitik als auch in der Auseinandersetzung mit der gew?hlten Laufbahn reflektiert. Voraussetzung für einen gesunden Umgang mit Widerst?nden und eine ehrliche Reflexion der pers?nlichen Karrierechancen ist eine Selbstwirksamkeitserwartung, also die F?higkeit, auch unter schwierigen Bedingungen in die eigenen Kompetenzen zu vertrauen. Insbesondere im ?bergang von der Promotion zur Postdoc-Phase wünschen sich die Wissenschaftlerinnen zudem finanzielle Brücken, die es ihnen erm?glichen, sich zu bewerben oder w?hrend dieser Zeit Antr?ge zu schreiben.
Universit?t ist für die Wissenschaftlerinnen ein Ort, an dem Vielfalt gelebt wird. Gleichzeitig ist es bis zu einer wirklichen Anerkennung und einem wertsch?tzenden Umgang mit Heterogenit?t und Andersartigkeit noch ein weiter Weg. Um vorhandenes Potential bestm?glich zu nutzen, sind aus Sicht der Wissenschaftlerinnen organisationale Ver?nderungsprozesse notwendig, die die ?ffnung der Universit?t fortsetzen und darüber hinaus zu einer besseren Absicherung der Besch?ftigten führen.
Henriette Ullmann