Die Erfassung sozialer Dimensionen von Geschlecht

Unter sozialen Dimensionen von Geschlecht, im Englischen als ?Gender“ zusammengefasst, wird das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels gesellschaftlicher Zuweisungen, die zu geschlechtlichen Identit?ten, sozialen Positionierungen und kulturellen Bedeutungen führen, verstanden (siehe Geschlechterkonzept). Je nach Fragestellung einer epidemiologischen Studie sind verschiedene soziale Dimensionen von Geschlecht, einschlie?lich ihrer Verwobenheit mit biologischen Dimensionen von Geschlecht, für die untersuchten gesundheitlichen Ph?nomene von Bedeutung (Krieger 2003). Für die Validit?t einer quantitativen Gesundheitsstudie ist entscheidend, die jeweils relevanten sozialen Dimensionen von Geschlecht ad?quat zu operationalisieren und damit messbar zu machen (Johnson et al., 2009).

Je nachdem, ob soziale Dimensionen von Geschlecht Art und Ausma? der zu untersuchenden Expositionen beeinflussen, die Wirkung dieser Expositionen auf die in der Studie betrachteten Gesundheitszielgr??en modifizieren oder über andere Pfade mit diesen Gesundheitszielgr??en assoziiert sind, sind unterschiedliche methodische Vorgehensweisen der Datenerhebung und Datenanalyse angebracht (Bolte, 2016). Soziale Dimensionen von Geschlecht in epidemiologischen Studien lediglich ausschlie?lich als Confounder zu betrachten, wird den tats?chlichen Zusammenh?ngen in den meisten F?llen nicht gerecht.

Wei?e Sprechblase auf grauem Grund
Stefan Schweihofer/ Pixabay

?The well worn joke - an epidemiologist is a person broken down by age and sex - is a bit closer to the truth than many of us would probably care to admit. Gender is nearly always treated as a potential confounding variable, the effects of which, if there are any, must be controlled for statistically and then ignored. Gender differences in health per se are seldom given a second glance.“

(Stephenson & McKee 1993, p. 151)

Relevante soziale Dimensionen von Geschlecht

Für Gesundheitsstudien spielen folgende soziale Dimensionen von Geschlecht eine Rolle (Tannenbaum et al., 2016; Greaves & Ritz, 2022):

Geschlechtsidentit?t (gender identity):

Wie eine Person sich selbst sieht und verortet in der Landschaft der Geschlechtsidentit?ten, die in ihrem kulturellen und zeitlichen Kontext vorhanden sind. Der ?u?ere Ausdruck der Geschlechtsidentit?t einer Person kann davon beeinflusst werden, inwieweit diese Identit?t in ihrem sozialen Milieu akzeptiert wird. Die Geschlechtsidentit?t beeinflusst Gefühle und Verhalten (Basis-Items).

Geschlechterrollen (gender roles):

(Stereotype) Verhaltensnormen und Erwartungen in einer Gesellschaft, die das allt?gliche Handeln, Erwartungen und Erfahrungen von Personen beeinflussen, z. B. in der Familie, in der Arbeitswelt, im Bildungsbereich.

Geschlechterverh?ltnisse (gender relations):

Bezieht sich auf Interaktionen von Menschen basierend auf dem zugeordneten oder selbst erfahrenen Geschlecht und den daraus entstehenden (Macht-)Verh?ltnissen, zum Beispiel in der Kommunikation, in famili?ren oder Arbeitsbeziehungen.

Strukturelle geschlechtsbezogene Rahmenbedingungen (institutionalized gender):

Verteilung von Macht und Einfluss in politischen, kulturellen, Bildungs- und sozialen Institutionen einer Gesellschaft je nach Geschlecht der Personen. Strukturelle Rahmenbedingungen und Geschlechternormen beeinflussen und verst?rken sich gegenseitig. Institutionelle geschlechtsspezifische Faktoren und ihre Auswirkungen k?nnen z.B. die Lenkung von Menschen zu bestimmten Berufen, die Stigmatisierung bestimmter Verhaltensweisen, die ungleiche Entlohnung aufgrund des Geschlechts sowie die individuelle und gruppenbezogene Beachtung normativer kultureller Erwartungen in Bezug auf Geschlecht beinhalten.

Wei?e Sprechblase auf grauem Grund
Stefan Schweihofer/ Pixabay

 

“Gender is not accurately captured by the traditional male and female dichotomy of sex. Instead, it is a complex social system that structures the life experience of all human beings.”

(Heise et al., Lancet 2019, p. 244)

Die Relevanz sozialer Dimensionen von Geschlecht

Tabelle 1: Beispiele  für die Relevanz sozialer Dimensionen von Geschlecht für Expositionen oder Inanspruchnahme von Gesundheitsversorgung und potenziellen Gesundheitseffekten

Geschlechtsbezogene Aspekte

Beispiele für die Bedeutung für Expositionen und physiologische Prozesse

Potentielle Auswirkungen auf die Gesundheit

Geschlechtsbezogene Kleidungsstile

 
  • Exposition gegenüber Sonnenlicht und hierdurch beeinflusste Vitamin D Produktion und UV-Strahlungsinduzierte Mutationen der DNA
  • Dehnung der Achillessehne je nach Absatzh?he, Druck auf Fü?e durch enge Schuhe
 
 
  • Effekte auf Dichte und Stabilit?t der Knochen
  • Ver?nderungen des k?rpereigenen Immunsystems
  • Erh?htes Hautkrebsrisiko
  • Muskelschmerzen, Fehlstellungen
 

Geschlechtsspezifische berufliche Rollen

 
  • Exposition gegenüber Chemikalien und Allergenen
  • Exposition gegenüber Krankheitserregern
  • (Un-)ergonomische und wiederholte Bewegungen
  • Schweres Heben, (hohe) k?rperliche Anforderungen
 
 
  • Erh?htes Risiko für Krebs-, Atemwegs- und Lungenerkrankungen
  • Infektionen, allergische Reaktionen
  • Effekte auf Dichte und Stabilit?t der Knochen
  • Effekte auf das Muskel-Skelett-System, Verletzungen
 

Geschlechternormen: ?Toughness“

 
  • Herunterspielen von Schmerzen und Verletzungen, versp?tete Inanspruchnahme von Behandlungen
  • Exposition gegenüber Gewalt und dadurch verursachter Stress, k?rperliche Verletzungen und Trauma
  • Anzahl der Sexualpartner*innen, Verwendung und Art von Verhütungsmitteln
 
 
  • Fortgeschrittene Erkrankung zum Zeitpunkt der Diagnose
  • k?rperliche Verletzungen und Trauma
  • Psychische Erkrankungen und Suchtmittelkonsum
  • Unterdrückung des k?rpereigenen Immunsystems
  • Muskelver?nderungen
  • Erh?htes Risiko für sexuell übertragbare Infektionskrankheiten
 

Geschlechternormen: Risikobereitschaft

 
  • Suchtmittelkonsum
  • Glücksspiel
 
 
  • Chronische Schmerzen, k?rperliche Verletzungen und Trauma, Beeintr?chtigungen
  • Sucht, Sch?digung der Leber, Krebsrisiko, ?berdosis und Vergiftung
  • Vernachl?ssigung von Verpflichtungen und sozialer Kontakte
 

Geschlechternormen: Spielen/ Aktivit?ten in der Kindheit

 
  • Exposition gegenüber Schmutz und Keimen, Zusammensetzung des Mikrobioms
  • K?rperliche Bet?tigung, schweres Heben, (hohe) k?rperliche Anforderungen
  • Ver?nderungen des Gehirns als Antwort auf Anforderungen und Aktivit?ten, Entwicklung der Fein- und Grobmotorik, Risikobereitschaft
 
 
  • Funktion und Regulation des k?rpereigenen Immunsystems, Entwicklung und Funktion des Muskel- und Skelettsystems und des Herz-Lungensystems
  • Neuronale Entwicklungen, Hirnfunktionen
 

Geschlechternormen: Ern?hrungsverhalten und sportliche Bet?tigung

 
  • K?rperliche Bet?tigung, schweres Heben, (hohe) k?rperliche Anforderungen
  • Ausüben von Risikosportarten
  • Ver澳门皇冠_皇冠足球比分-劲爆体育ter Konsum bestimmter Lebensmittelgruppen
  • Befolgen von Di?ten, Verzicht auf bestimmte Lebensmittelgruppen
 
 
  • Effekte auf Dichte und Stabilit?t der Knochen
  • Ver?nderungen der Muskeln und des Bewegungsapparats
  • K?rperliche Verletzungen und Trauma
  • Erh?htes Risiko für Krebserkrankungen, Stoffwechselerkrankungen und Kardiovaskul?re Erkrankungen
  • N?hrstoffmangel
 

Tabelle modifiziert nach Ritz & Greaves 2022

Leitfragen

Für eine ad?quate Berücksichtigung sozialer Dimensionen von Geschlecht in der Datenerhebung k?nnen folgende Fragen bei der Studienplanung hilfreich sei:

  • Gibt es bereits Evidenz für den Einfluss von sozialen Geschlechterdimensionen auf die zu untersuchenden Expositionen, auf die zu untersuchenden Gesundheitszielgr??en oder für eine Rolle als Effektmodifikatoren?
  • Falls es noch keine einschl?gige Evidenz gibt, ist der Einfluss von einer oder 澳门皇冠_皇冠足球比分-劲爆体育erer Geschlechterdimensionen auf die zu untersuchenden Expositionen, auf die zu untersuchenden Gesundheitszielgr??en oder ist eine Rolle als Effektmodifikatoren zu erwarten?
  • K?nnen alle relevanten sozialen Dimensionen von Geschlecht für die geplante Studie operationalisiert werden?
  • Welche Erhebungsinstrumente stehen bereits zur Verfügung bzw. welche müssen angepasst oder neu entwickelt werden?

Bedeutung sozialer Dimensionen von Geschlecht für Art und Ausma? von Expositionen

Es bestehen h?ufig (in Abh?ngigkeit von Zeit, Population, Ort) geschlechterbezogene Unterschiede in Expositionen, sei es aufgrund des Lebensumfelds, der Besch?ftigungsverh?ltnisse, der Aufenthaltsorte und -zeiten oder des gesundheitsrelevanten Verhaltens (RKI, 2020; RKI, 2014; P?ge et al., 2020; Bolte, 2016; Moss, 2002). Daten liegen bisher vor allem bezogen auf eine bin?re Geschlechterkategorie vor.

Eine intersektionale Analyse, die verschiedene modifizierende oder verst?rkende Einflüsse (z.B. durch Bildung, sozio?konomischen Status, Migrationsgeschichte) berücksichtigt, wird seit Kurzem zunehmend angewandt (Mena & Bolte, 2019; Bauer et al., 2021). Frauen und marginalisierte Geschlechter sind h?ufiger aufgrund geschlechterhierarchischer Strukturen sexistischer Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt (Krieger, 2020).

Bunte Pfeile, die einen Kreis bilden
? Gerd Altmann/ Pixabay

Leitfragen

  • Ist aus vorangegangenen Studien bereits bekannt oder ist anzunehmen, dass sich Expositionsgelegenheiten, Expositionsdauer und -intensit?t nach Geschlecht unterscheiden?
  • Welche sozialen Dimensionen von Geschlecht (Geschlechtsidentit?t, Geschlechterrollen, Geschlechterverh?ltnisse, strukturelle Rahmenbedingungen) sind zur Aufkl?rung dieser Expositionsunterschiede zu erheben?
  • Gibt es für alle Geschlechtergruppen validierte Instrumente zur Erhebung der Exposition?
  • Soll eine Intersektionalit?tsperspektive berücksichtigt werden? Welche weiteren sozialen Dimensionen sind hierbei relevant für die Forschungsfrage?

Bedeutung sozialer Dimensionen von Geschlecht für den Zugang zur Gesundheitsversorgung

Die verschiedenen Dimensionen von Geschlecht k?nnen den Zugang einer Person zu Leistungen der Gesundheitsversorgung beeinflussen (P?ge et al., 2020).

Neben geschlechtsbezogenen Unterschieden im Zugriff auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (Atzpodien et al., 2014; Robert Koch-Institut, 2020), zeigt sich dies auch in den finanziellen M?glichkeiten sich privat zu versichern oder Zusatzversicherungen in Anspruch zu nehmen. So sind Frauen beispielsweise durchschnittlich seltener privat versichert als M?nner (50% in der PVK sind M?nner, 32% Frauen, 18% Kinder, (Statista, 2023)). Innerhalb einer Population ?lterer Erwachsener konnte beobachtet werden, dass LGBTQ Personen h?ufiger Ungleich- heiten in der sozio?konomischen Teilhabe und deren gesundheitlichen Konsequenzen erfahren. Dies betrifft insbesondere trans* Menschen  (Emlet, 2016). Diese werden stark auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt, wodurch sich die finanziellen M?glichkeiten im Zugriff auf private Krankenleistungen verringern (Franzen et al., 2010).

Eine insgesamt reduzierte Inanspruchnahme k?nnte auch auf ein (zunehmend) begrenztes Angebot oder das Fehlen einer spezialisierten Versorgung zurückzuführen sein, wovon die einzelnen Geschlechtergruppen unterschiedlich stark betroffen sind. So fehlt eine spezialisierte medizinische Versorgung für inter* und trans* Personen an vielen Orten (Kahl et al., 2022). Weiterhin k?nnen an dieser Stelle Gesundheitsleistungen im Bereich der Schwangerschaft (Zugang zu Abtreibung, Hebammenversorgung) genannt werden. Hier ist ein zunehmender Rückgang der angebotenen Leistungen zu verzeichnen (Van den Berg et al., 2021), der besonders schwangere Personen in l?ndlichen Gebieten benachteiligt (Seelbach-G?bel, 2018).

Die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen kann durch viele Faktoren bedingt sein (Robert Koch-Institut, 2007), die intersektional (siehe Intersektionalit?t) mit den verschiedenen Dimensionen von Geschlecht interagieren. Um die Hintergründe hinter geschlechtsbezogenen Unterschieden im Zugang zu Gesundheitsleistungen zu verstehen, kann es daher sinnvoll sein, die einzelnen Geschlechterkategorien nach weiteren sozialen Faktoren zu differenzieren (Merz et al., 2021). So zeigte sich beispielsweise, dass Frauen verschiedener Herkunft unterschiedliche Barrieren beim Zugang zu Gesundheitsleistungen erleben (Vohra-Gupta et al., 2023) . Eine mangelnde Berücksichtigung der Interaktion von weiteren sozialen Faktoren, wie der Sexualit?t und der sozialen Lage, mit dem Geschlecht kann somit zu unvollst?ndigen und unter Umst?nden irreführenden Ergebnissen führen und die Gesundheitsversorgung auf die Dauer signifikant verschlechtern (Ng, 2016).

Leitfragen

  • Welche Zug?nge zu Angeboten der Gesundheitsversorgung sollen untersucht werden und bei welchen ist ein Einfluss von sozialen Dimensionen von Geschlecht zu vermuten? Welche Versorgungslücken bestehen in Abh?ngigkeit vom Geschlecht?
  • Welche sozialen Dimensionen von Geschlecht (Geschlechtsidentit?t, Geschlechterrollen, Geschlechterverh?ltnisse, strukturelle Rahmenbedingungen) sind zur Aufkl?rung von Unterschieden in der Gesundheitsversorgung zu erheben?  
  • Gibt es für alle Geschlechtergruppen validierte Instrumente zur Erhebung der Inanspruchnahme der bzw. des Zugangs zur Gesundheitsversorgung?
  • Soll eine Intersektionalit?tsperspektive berücksichtigt werden? Welche weiteren sozialen Dimensionen sind hierbei relevant für die Forschungsfrage?
  • Welche geschlechtsbezogenen strukturellen Rahmenbedingungen k?nnten Zug?nge zum Gesundheitssystem beeinflussen? 
  • Wie k?nnen strukturelle geschlechtsbezogene Rahmenbedingungen für den Zugang zum Gesundheitswesen in der Datenerhebung berücksichtigt werden?

Zitierte Literatur

Atzpodien, K., Bertz, J., Bremer, V., Hagen, C., Hamouda, O., Robert Koch-Institut (Eds.), 2014. Gesundheitliche Lage der M?nner in Deutschland, Beitr?ge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Robert-Koch-Institut, Berlin.

Bauer, G.R., Churchill, S.M., Mahendran, M., Walwyn, C., Lizotte, D., Villa-Rueda, A.A., 2021. Intersectionality in quantitative research: A systematic review of its emergence and applications of theory and methods. SSM - Population Health 14, 100798. https://doi.org/10.1016/j.ssmph.2021.100798

Bolte, G., 2016a. Gender in der Epidemiologie im Spannungsfeld zwischen Biomedizin und Geschlechterforschung. Konzeptionelle Ans?tze und methodische Diskussionen, in: Hornberg, C., Pauli, A., Wrede, B. (Eds.), Medizin-Gesundheit-Geschlecht. Eine Gesundheitswissenschaftliche Perspektive. Springer VS, Wiesbaden, pp. 103–124.

Bolte, G., 2016b. Geschlecht, Umwelt und Gesundheit, in: Kolip, P., Hurrelmann, K. (Eds.), Handbuch Geschlecht Und Gesundheit – M?nner Und Frauen Im Vergleich. Hogrefe Verlag, Bern, pp. 58–70.

Emlet, C.A., 2016. Social, Economic, and Health Disparities Among LGBT Older Adults 40, 16–22.

Franzen, J., Sauer, A., Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2010. Benachteiligung von Trans*Personen, insbesondere im Arbeitsleben.

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