(P) Hans-Ulrich Treichel: ?Der Verlorene“ (1998)

Hans-Ulrich Treichel
Hans-Ulrich Treichel

Der Ich-Erz?hler dieses autobiographisch gepr?gten Textes w?chst als Einzelkind in einer westf?lischen Kleinstadt in den fünfziger Jahren auf. Seine Eltern konnten als Flüchtlinge aus Ostpreu?en in ihrer neuen Heimat kaum Fu? fassen. Der Vater kommuniziert überwiegend durch Arbeitsanweisungen und konzentriert sich auf seinen beruflichen Aufstieg vom Schlachter zum Gro?h?ndler für Wurst- und Fleischwaren. Die gefühlskalte Mutter ist emsig damit besch?ftigt, den Haushalt zu führen. Im Zentrum dieser bedrückenden Familienatmosph?re steht Arnold, der verlorene Sohn. Es hei?t, er sei ?auf der Flucht vor dem Russen abhanden gekommen“. Nach dem Krieg unternehmen die Eltern alles, um Arnold wiederzufinden. Ein in den Suchlisten des Roten Kreuzes geführtes Findelkind meinen sie als ihren Sohn identifiziert zu haben. Mit Hilfe diverser medizinischer und juristischer Gutachten versuchen sie vergeblich, den Jungen als ihren Sohn zugesprochen zu bekommen. Am Ende der Erz?hlung, die sich auf die Perspektive und die Empfindungen des Ich-Erz?hlers ausrichtet, steht der Tod des Vaters und die Resignation der Mutter.

Anders als im Text mitgeteilt, hat der Autor erst wenige Jahre vor dem Tod der Mutter von der Existenz des verschollenen Bruders erfahren. ?Der Verlorene“, so teilt Treichel selbst mit, sei dementsprechend eine ?Variante“ des wahren Geschehens, die er zur eigenen ?Beruhigung“ geschrieben habe. Treichels Text gilt als einer der ersten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der sich explizit dem Thema Flucht und Vertreibung zuwandte. Seine pr?zise nachempfundene und oft geradezu abgründig-komische Darstellung der kleinbürgerlichen Nachkriegsfamilie k?nne – so die Literaturkritik – als ein ?Panorama deutscher Trivialit?ten und Platitüden“ verstanden werden, bei dem private Erfahrungen allgemeingültige Objektivit?t erlangen: dies seien Sprach- und Gefühlslosigkeit, Vergangenheitsverdr?ngung, das Aufwachsen ?in einer von Schuld und Scham vergifteten Atmosph?re“, das Buckeln für Wohlstand und sozialen Aufstieg. Vor diesem Hintergrund ist das Heranwachsen des Ich-Erz?hlers von Einsamkeit gepr?gt. Für ihn ist Arnold, der Verlorene, Symbol der versagten Zuwendung; für seine Eltern hingegen Chiffre für ein ersehntes und vers?umtes Leben.

Hans-Ulrich Treichel wurde 1952 in Versmold/Westfalen geboren. Nach einem Studium der Germanistik, Politologie und Philosophie an der Freien Universit?t Berlin promovierte er 1983 mit einer Arbeit zu Wolfgang Koeppen. 1983 erfolgte die Habilitation. Nach verschiedenen wissenschaftlichen T?tigkeiten war Treichel von 1995 bis 2018 Professor für Deutsche Literatur am Deutschen Literaturinstitut der Universit?t Leipzig. Mit eigenen literarischen Arbeiten trat er seit 1998 hervor. Bekannt geworden sind u.a. die Romane ?Tristanakkord“ (2000), ?Menschenflug“ (2005) und ?Anatolin“ (2008). Der Roman ?Frühe St?rung“ (2014) sowie die Erz?hlung ?Tagesanbruch“ (2016) knüpfen an das in ?Der Verlorene“ ausgebreitete Thema an. Hans-Ulrich Treichel wurde 澳门皇冠_皇冠足球比分-劲爆体育fach ausgezeichnet, so mit dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis (2003), dem Hermann-Hesse-Preis (2005) und dem Eichendorff-Literaturpreis (2006).
 

Die Erz?hlung ist im Suhrkamp Verlag als Taschenbuch erschienen.
 


Dozentin:  Dr. Ina Düking

Termine:    2 Termine  dienstags und mittwochs

  • Dienstag,    19.03.2024
  • Mittwoch,    20.03.2024

Zeit:  14:15 (s.t.) bis 15:45 Uhr

Entgelt:    35,- Euro

Veranstaltungsart:    nur in Pr?senz (Akademie, Raum B 0660)

Hinweis:                     Teilnehmerbegrenzung: 40 Personen

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