Fokusprojekt Sexualit?tsgeschichte
Veronika Settele & Lisa Hellriegel

Hinter der Norm: Praktiken der Sexualit?t zwischen S?kularisierung und Verwissenschaftlichung, 1848–1930
Das von Veronika Settele geleitete Forschungsprojekt (2023–2026) untersucht die ?hinter der Norm“ liegende Geschichte der Sexualit?t von der Mitte des 19. bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts in Westeuropa. Die beiden übergreifenden Fragestellungen des Projekts zielen auf ver?nderte Bindungen an Religion und Konfession und die Auswirkungen der wachsenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Sexualit?t in Biologie, Psychologie und Medizin auf konkrete Praktiken von Lust, Gewalt und Fortpflanzung. Ziel des Forschungsprojektes ist eine transnationale Wahrnehmungsgeschichte der Sexualit?t. Die Forschung stützt sich insbesondere auf Gerichts- und Patientenakten sowie Briefe, Tagebücher und Autobiografien.
Forschungsprojekte
Die S?kularisierung der Sexualit?t in Europa
Lust und Fortpflanzung als Praktiken der Religion in Deutschland und Frankreich, ca. 1850–1930
Veronika Settele untersucht in ihrem Habilitationsprojekt Sexualit?t als religi?se Praxis in der r?misch-katholischen Kirche, den protestantischen Kirchen und dem Judentum zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und 1930. Deutschland und Frankreich bilden die geographischen Schwerpunkte der Studie, die jedoch weitere transnationale Bezüge in den Blick nimmt und sich als westeurop?ische Area Study begreift.
Anhand konkreter Praktiken von Verhütung, Schwangerschaftsabbruch sowie vor-, au?er- und ehelicher sexueller Handlungen untersucht das Projekt die Ver?nderung der Alltagsbedeutung religi?ser Lehren und Autorit?ten für das Erleben von sexueller Lust und die Gestaltung der Reproduktion. Mit diesem Zuschnitt schlie?t Settele an die S?kularisierungstheorien des Religionssoziologen José Casanova und des Anthropologen Talal Asad an, die bin?re Vorstellungen einer religi?sen und zunehmend privaten Sph?re auf der einen und einer s?kularen ?ffentlichen (staatlichen) Sph?re auf der anderen Seite für die Moderne überwanden. Ziel des Forschungsprojektes ist es, eine Wahrnehmungsgeschichte der Sexualit?t zu rekonstruieren. Im Zentrum steht die Frage, inwiefern Praktiken sexueller Lust und (verhinderter) Fortpflanzung Einfluss auf Fr?mmigkeit, kirchliche Bindungen und den Glauben selbst ausübten. Dem Projekt liegt, in Anlehnung an Clifford Geertz, ein breites Verst?ndnis von Religion als einem System kultureller Bedeutungen zugrunde, das individuelle Bedürfnisse nach Zuwendung und ?u?erer Autorit?t miteinbezieht und über engere Vorstellungen klerikaler Kontrolle und Legitimierung des Nationalstaats im 19. Jahrhundert hinausgeht. Um den Fokus historischer Untersuchungen zu Sexualit?t von der normativen Ebene auf die gelebte sexuelle Alltagspraxis zu verlagern, basiert die Studie sowohl auf Ego-Dokumenten wie Briefen, Tagebüchern, Autobiografien und autobiografischen Romane als auch auf Kirchen-, Polizei- und Gerichtsakten, medizinischen Fallgeschichten und Beichtspiegeln auf der Seite obrigkeitlicher Intervention. Dieser Quellenkorpus wird erg?nzt durch Kolportageromane, Witzesammlungen, Eheratgeber und Presseberichterstattung für den gesellschaftlichen Kontext, in dem sich die individuellen Handlungen vollzogen.
Von Sittlichkeit zu Selbstbestimmung?
Wandel & Kontinuit?t gesellschaftlicher und rechtlicher Wahrnehmung sexualisierter Gewalt an Erwachsenen in (west-)deutschen und englischen Gro?st?dten, 1920er bis Ende der langen 1960er Jahre
Lisa Hellriegel erforscht in ihrem Promotionsprojekt, wie sich die gesellschaftliche und rechtliche Wahrnehmung von sexualisierter Gewalt an Personen über dem Schutzalter zwischen dem Beginn der Weimarer Republik und dem Ende der langen 1960er Jahre wandelte. Das bundesrepublikanische Vierte Gesetz zur Strafrechtsreform 1973 begriff sexualisierte Gewalt an Erwachsenen (§ 177 StGB, bis dahin ?Notzucht“, ab dann ?Vergewaltigung“) erstmals als Straftat gegen die ?sexuelle Selbstbestimmung“, nicht 澳门皇冠_皇冠足球比分-劲爆体育 gegen die ?Sittlichkeit“. Damit ?nderte sich die ein Jahrhundert lang vorherrschende Konzeption sexualisierter Gewalt. Das Projekt von Lisa Hellriegel fragt, welche Rolle Rechtspraxis und gesellschaftlichen Diskussionen zu sexualisierter Gewalt für diesen Wandel spielten. Sie arbeitet mit Gerichts- und Polizeiakten sowie mit medizinischen und psychiatrischen Gutachten, Zeitungsberichten und Egodokumenten.
Diesen Wandel verortet das Projekt im sozialen Raum der Gro?stadt. Die historische Betrachtung sexualisierter Gewalt und ihre Verortung in konkreten st?dtischen R?umen – etwa der Freizeit, des Vergnügens oder der Arbeit – er?ffnet neue Perspektiven auf Stadtgeschichte. F?lle aus den deutschen Gro?st?dten Hamburg und Berlin kontrastiert das Projekt mit F?llen aus den englischen Gro?st?dten London, Birmingham und Manchester, um nach der Bedeutung von Z?suren im politischen System und der verschiedenen Rechtssysteme für die gesellschaftliche und rechtliche Wahrnehmung sexualisierter Gewalt zu fragen.
Die Schlie?ung der Bremer Helenenstra?e (Bordellstra?e)
Eine lokalhistorische Perspektive auf den Diskurs um Geschlechtskrankheiten und Prostitution, 1920er Jahre
Yeliz Elze untersuchte in ihrer 2023 abgeschlossenen Bachelorarbeit Bremer Quellen zur Schlie?ung der Bordellstra?e ?Helenenstra?e“ in den 1920er Jahren. Die Schlie?ung der Bremer Bordellstra?e sowie die republikweite Abschaffung der reglementierten Prostitution wurde seit Beginn der Weimarer Republik unter Politikern, ?rzten und Akteurinnen der Frauenbewegung ausführlich diskutiert. Sie erfolgte 1927 in Form des neuen ?Reichsgesetzes zur Bek?mpfung der Geschlechtskrankheiten“. Im Fokus der Arbeit steht die Rolle von Frauenrechtlerinnen und Prostituierten als handelnde Akteurinnen im politischen Diskurs um Geschlechtskrankheiten und Prostitution. Die untersuchten Quellen zeigen auf der einen Seite unerwartete Vernetzungen zwischen sexualreformerischen und sittlichkeitsbewegten Frauenrechtlerinnen, die sich für die Schlie?ung der Bordellstra?e einsetzten. Auf der anderen Seite legen sie den politischen Aktivismus der in der Helenenstra?e ans?ssigen Prostituierten offen, die sich gegen die Schlie?ung ihres Gewerberaums auflehnten.
Yeliz Elze studiert im Master ?Ungleichheiten in Geschichte und Gegenwart“ an der Universit?t Bremen und unterstützt Veronika Settele und Lisa Hellriegel als studentische Hilfskraft.
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Zwei neue Publikationen im Projektkontext
Veronika Settele und Lisa Hellriegel haben einen Beitrag über die Bremerin Sophie "Sonny" von Engelbrechten und ihr koloniales Verst?ndnis von Geschlecht und Sexualit?t für den Sammelband "Stadt der Kolonien" geschrieben. Yeliz Elze hat zentrale Erkenntnisse aus ihrer Bachelorarbeit über den Diskurs um Prostitution und Geschlechtskrankheiten in der Bremer Helenenstra?e in einem Aufsatz im Bremischen Jahrbuch (2024) ver?ffentlicht.
Workshop “Beyond Norms and Categories: Towards a History of Sexual Practices, 1850–1960”
Am 20. und 21. Februar 2024 veranstalteten wir den internationalen Workshop “Beyond Norms and Categories: Towards a History of Sexual Practices, 1850–1960” an der Universit?t Bremen. Ziel der internationalen Konferenz war, das Jahrhundert vor der sogenannten ?sexuellen Revolution“ in den Blick zu nehmen – ohne dieses als Vorgeschichte derselben zu verstehen – und besonderes Augenmerk auf die Geschichte sozialer Praktiken, statt auf die Geschichte sexueller Normen zu legen. Der Workshop war die erste Veranstaltung des Fokusprojekts ?Hinter der Norm: Praktiken der Sexualit?t zwischen S?kularisierung und Verwissenschaftlichung, 1848–1930“.
Der Tagungsbericht von Alina Potempa und Teresa Schenk sowie das Programm sind untenstehend zu finden.
Programm des Workshops "Beyond Norms and Categories"
Dateiname: Program_Workshop_Beyond_Norms_and_Categories.pdf?nderungsdatum: 14.02.2024Tagungsbericht zum Workshop "Beyond Norms and Categories" (Potempa/Schenk)
Dateiname: PotempaSchenk_Conference_Report_Towards_a_History_of_Sexual_Practices_Bremen_2024_HSK.pdf?nderungsdatum: 14.05.2024
Publikationen im Projektkontext
Lisa Hellriegel, Rezension zu: Teresa Tammer, ?Warme Brüder“ im Kalten Krieg. Die DDR-Schwulenbewegung und das geteilte Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren (Quellen und Darstellung zur Zeitgeschichte, Bd.138), De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2023, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte, Bd. 24 (2025), H. 1., S. 153–156.
Yeliz Elze, Prostitution und Geschlechtskrankheiten in der Weimarer Republik. Die Schlie?ung der Bremer Helenenstra?e 1925–27, in: Bremisches Jahrbuch 103 (2024), S. 165–182.
Lisa Hellriegel und Veronika Settele, Sophie "Sonny" von Engelbrechten. Bürgerliche Wohlt?tigkeit und koloniales Engagement, in: Norman Aselmeyer und Virginie Kamche (Hg.), "Stadt der Kolonien". Wie Bremen den deutschen Kolonialismus pr?gte, Freiburg 2024, S. 96–100.
Lisa Hellriegel und Veronika Settele, Ein europ?ischer Vergleich sexueller Tatbest?nde in Straf-, Zivil- und Ehrgerichtsbarkeit, 1850-1960, in Vorbereitung.
Veronika Settele, Art. Sexualit?t, in: Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland, in Vorbereitung.
Veronika Settele und Christoph Conrad, Keine Zukunft – keine Kinder? Geb?rstreik zwischen Klassenkampf und Klimakrise, im Erscheinen.
Veronika Settele, How to Best Campaign for Sexual Reform: Karl Heinrich Ulrichs, Karl Maria Kertbeny and their Fiery Correspondence in the 1860s, in: History, Sexuality, Law. Verschr?nkung von Recht und Geschlecht im historischen Kontext, 25.1.2023, https://hsl.hypotheses.org/2090.
Veronika Settele, Rezension zu Rainer Herrn. Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919-1933, Berlin: Suhrkamp 2022, 681 S., in: sehepunkte 23 (2023), https://www.sehepunkte.de/2023/09/37834.html
Veronika Settele, Die Klitoris spielt in der Debatte um Geschlechterordnungen eine zentrale Rolle. Dass kaum ein anderes Organ so folgenreich missverstanden wurde, zeigt die Medizin- und Anatomiegeschichte, in: FAZ 16.9.2023, S. Z 5.
News
Zwei neue Publikationen im Projektkontext
Veronika Settele und Lisa Hellriegel haben einen Beitrag für den Sammelband "Stadt der Kolonien" geschrieben. Yeliz Elze hat einen Aufsatz im Bremischen Jahrbuch ver?ffentlicht.
Workshop “Beyond Norms and Categories: Towards a History of Sexual Practices, 1850–1960” (20./21.2.2024)
Der Workshop zur Geschichte sexueller Praktiken fand im Februar 2024 an der Universit?t Bremen statt. Der Tagungsbericht von Alina Potempa und Teresa Schenk ist nun erschienen.
Kontakt
Veronika Settele: Veronika.Setteleprotect me ?!lmuprotect me ?!.de
Lisa Hellriegel: lisa.hellriegelprotect me ?!uni-bremenprotect me ?!.de